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Gestrandet im medizinischen Niemandsland

Es scheint, als würde sich unsere staatsführende Regierung in den neben der schrecklichen Pandemie bestehenden Problemen auf einen bequemen Ausnahmezustand durch covid-19 herauszureden versuchen. Dabei ist unser Gesundheitssystem in einem beklagenswertem Zustand: personelle Unterbesetzung und Unterbezahlung des Pflege- und Behandlungs-Personals (sowohl die Ärztinnen und Ärzte, wie auch die Pflegerinnen und Pfleger in Krankenhäuser und Heimeinrichtungen) sind schon über Jahre ein Thema; nicht erst seit neulich! Es gibt aber in Deutschland auch Hunderttausende, die von einer hausärztlichen Versorgung abgeschnitten sind.

Den Grund dafür kann man einerseits im Mangel an Ärztinnen und Ärzten ausmachen, die sich der Allgemeinmedizin verschrieben haben. Diejenigen, die noch bis ins hohe Alter die Versorgung als Allgemeinmediziner betreiben, können auch kaum noch neue Patienten aufnehmen, weil sie den Ansturm, gerade in diesen Zeiten, aus seuchenhygienischen Gründen, nicht mehr bewältigen könnten. Aber es gibt noch eine ganz andere Schwachstelle in diesem System der hausärztlichen Grundversorgung in Deutschland: da sich durch die weitere fachärztliche Qualifizierung für die jungen Hausärzte Möglichkeiten ergeben, weit höhere Renditen mit ihrem Praxen zu erzielen, als wenn sie nur allgemeinmedizinisch tätig wären, sehen sich diese Ärzte auch dazu berufen, sich hauptsächlich ihrem zusätzlichen Qualifikations-Fachgebiet zu widmen – und die allgemeinmedizinische Behandlung von Patienten einfach außen vor zu lassen. Dadurch verstärken sie den Mangel an der Front der behandlungsbedürftigen Patienten noch mehr, weil für die Kassenärztlichen Vereinigungen die Abdeckung mit Allgemeinarzt-Praxen ausreichend erscheint, primär klassifizieren sich die Ärzte ja auch weiter als Allgemeinmediziner. Dabei haben sie sich längst auf die ausschließliche Behandlung als Diabetologen, Internisten, Sportmediziner und andere fachärztliche Richtungen ausgelegt. Sie tauchen also in den Statistiken doppelt auf, sowohl bei den Allgemeinmedizinern, wie auch bei den sonstigen Fachärzten.

Diejenigen Patienten, die verzweifelt über Jahre nach einer hausärztlichen Praxis suchen, bekommen von den kassenärztlichen Vereinigungen nur bescheinigt, dass sie sich angeblich nicht genügend bemühen. Welcher Ausweg für Patienten gibt es in solchen Situationen?

Wer sich seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen der jeweiligen Krankenkasse durchliest, kommt da schnell zu der Erkenntnis, dass die Patientinnen und Patienten Geschäftspartner einer Krankenkasse sind, die ihre Verantwortung für die Erfüllung ihrer Vertragsleistung ihrerseits an die Kassenärztlichen Vereinigungen der jeweiligen Bundesländer abgibt, ohne den Patienten eine hausärztliche Grundversorgung zusichern zu können. Die Patienten schweben dadurch also in einem juristischen Niemandsland, in dem sie der Willfährigkeit der Arztpraxen ausgesetzt sind, ob sie willig sind, sie als Patienten aufzunehmen, wenn die Patientinnen und Patienten Geschäftspartner einer gesetzlichen Krankenversicherung sind. Jeder Arzt kann am Telefon oder am Empfang behaupten, dass er so viele Patienten hätte, dass er nicht mehr in der Lage wäre, weitere Patienten aufzunehmen, braucht den Beweis dafür nicht gegenüber den Hilfesuchenden offenlegen. Aus Sicht der Patienten lässt sich eine solche Behauptung also nicht als falsch belegen, so dass den Patientinnen und Patienten kein rechtlicher Anspruch auf die Leistung des Arztes für eine hausärztliche Behandlung zustehen würde. Natürlich bringen Privatpatienten weit mehr Rendite für eine Praxis, und damit auch für die Ärztinnen und Ärzte, die ihre Praxen als „Arztpraxis für Allgemeinmedizin mit kassenärztlicher Zulassung“ kaschieren, aber nur für ausgesuchtes Publikum zugänglich sind.
Vermutlich gibt es nur den Weg für die Patientinnen und Patienten über eine Klage beim Sozialgericht (Az: S25 KR 2390/20 beim Sozialgericht Frankufrt am Main) auf die Zuteilung einer hausärztlichen Versorgung durch die jeweilige gesetzliche Krankenkasse als Vertragspartner der Patientenschaft. Das Hindernis dabei ist, dass es im deutschen Rechtssystem noch keinen Anspruch auf eine sogenannte Popularklage gibt, bei denen der Kläger sein Recht auf Erfüllung eines Bundesgesetzes, in diesem Fall aus dem Sozialgesetzbuch V §23 „Medizinische Versorgungsleistung“, haben. Dies wäre aber in diesem Fall eine zwingende Grundlage, damit dem Gesetzgeber auch die Forderung der Patientinnen und Patienten in die Hand gegeben werden kann, eine Erfüllung von SGB V §23 einfordern zu können. Und zwar nicht bei der Kassenärztlichen Vereinigung, zu der von den gesetzlichen Versicherern verwiesen wird, die Patientinnen und Patientinnen aber keine Geschäftsbeziehung führen, sondern bei ihren Geschäftspartnern direkt, nämlich den gesetzlichen Versicherern. Schließlich sind die für die Patientinnen und Patienten die legitimen Gesprächspartner.

Unser Bundesgesundheitsminister Jens Spahn macht es sich also wohl zu einfach, die Patientenschaft auf die Vermittlung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (bundesweite einheitliche Telefonnummer 116117) zu verweisen, die sogar einen als Vertrag ausgewiesenen Terminservice anbieten, der aber von den kassenärztlich zugelassenen Ärtinnen und Ärzte abgelehnt und nicht erfüllt wird. Hier ist auch der hilfesuchende Patient nur noch in Gottes Hand, denn er hätte nicht einmal einen Rechtsanspruch auf eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung nach StGB 323, auch nicht, wenn er vor der Praxis des Arztes zusammenbricht. Dann bleibt er im öffentlichen Raum liegen – und die betreffenden Ärztinnen und Ärzte können sich immer darauf hinausreden, sie hätten es entweder nicht bemerkt oder den Zustand der Patientinnen und Patienten nicht als lebensbedrohlich angesehen. Also echtes medizinisches Niemandsland.